Fear-onomics: Die Ökonomie der Angst
Fear-onomics: Die Ökonomie der Angst
Ein Kommentar von Shaan Raithatha, Economist von Vanguard Europe.
„Wir haben nichts zu befürchten – außer der Furcht selbst.“ Vor dem Hintergrund einer tödlichen Pandemie mag dieses neunzig Jahre alte Zitat von Franklin D. Roosevelt etwas einfältig klingen, rein ökonomisch betrachtet trifft es jedoch den Kern der Lage.
Der ehemalige US-Präsident mag damals eine zögerliche Reaktion nach der Weltwirtschaftskrise im Sinn gehabt haben. Heute ist es eine andere Art von Angst – die Angst der Verbraucher –, die maßgeblich über Erfolg und Tempo der Erholung nach der Covid-19-Pandemie entscheiden wird.
Wir erwarten einen Aufschwung in zwei Phasen: Wenn die Produktion nach der Aufhebung der Lockdown-Beschränkungen wieder anläuft, rechnen wir zunächst mit einem schnellen, V-förmigen Anstieg der Wirtschaftsleistung. In Europa, vor allem in Deutschland und Frankreich, sehen wir dafür bereits Anzeichen.
Die sich jedoch die Nachfrage nur langsam erholen wird, wird auch die anschließende zweite Phase, um die es hier geht, sehr viel länger dauern.
Insgesamt rechnen wir mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von rund 10% in diesem Jahr, sowohl in Großbritannien als auch in der Eurozone. Weitere Informationen zu unserem Ausblick finden Sie im VEMO-Halbjahresbericht.
Der Angstfaktor – die Angst vor sozialem Kontakt in der Form, wie wir ihn vor der Pandemie gewohnt waren – ist der Grund, warum sich die Nachfrage nur sehr langsam normalisiert. Bestimmte Branchen wie Einzelhandel, Freizeit und Kunst gelten dabei als riskanter und treffen auf eine schwächere Nachfrage als andere.
Fotos von überfüllten Stränden und Ausgehvierteln, feiernden Sportfans und illegalen Raves können zwar den Eindruck erwecken, dass die Menschen zunehmend unvorsichtiger werden, doch insgesamt halten sie sich noch immer zurück. Zum Teil liegt dies an den weiterhin geltenden Einschränkungen in Europa, aber eben auch an der nagenden Angst vor Covid-19, ausgelöst durch Bilder aus anderen Teilen der Welt, in denen das Virus noch immer wütet, und neue Ausbrüche zu Hause.
Anhand von Umfragedaten lässt sich diese Angst zu messen und auf Schwankungen überprüfen. Eine solche Verbraucherumfrage vom Meinungsforschungsunternehmen YouGov hat das Kaufverhalten von Verbrauchern bei Konsumgütern außerhalb des täglichen Bedarfs untersucht (siehe unten). Die Ergebnisse der Umfrage verdeutlichen das Ausmaß des Problems: Zwar wagt sich die Mehrheit der Verbraucher inzwischen wieder vor die Tür, eine bedeutende Minderheit bleibt jedoch noch immer zu Hause.
Zögerliche Kunden
Wie sicher fühlen Sie sich beim Einkauf von Produkten außerhalb des täglichen Bedarfs?
Quelle: YouGov-Umfrage unter 3.231 Erwachsenen vom 15. Juli
Dass sich heute mindestens 40% der Verbraucher weiterhin unwohl oder sehr unwohl beim Einkauf zyklischer Konsumgüter fühlen, ist ein erhebliches wirtschaftliches Problem, da Unternehmen oft mit engen Gewinnspannen arbeiten.
Selbst wenn nur 10% der Besucher bzw. Kunden fortbleiben, werden einige Unternehmen dadurch unrentabel. Die Sorge europäischer Regierungen und ihr Aufruf, wieder rauszugehen und Geld unter die Leute zu bringen, sind also nicht überraschend.
Hinter der Kaufzurückhaltung steckt die Angst vor öffentlichen Verkehrsmitteln und zwischenmenschlichem Kontakt, doch nicht nur dies: Schon bald werden Kurzarbeitsprogramme und andere Maßnahmen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen auslaufen, und so mischt sich die Angst vor einer Ansteckung mit der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.
So rechnen wir in Großbritannien damit, dass in den kommenden Monaten bis zu 15% der beurlaubten Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren könnten.
Wenn Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren und die Einkommen sinken, geben sie weniger Geld aus. Dazu kommt die Angst vor der Zukunft, die die Menschen ebenfalls eher zum Sparen als zum Konsumieren veranlassen könnte.
Daher könnte auch der Nachfragestau überschätzt werden.
Wann verschwindet die Angst?
Wann fühlen sich die Menschen also sicher genug, um zu einem normalen Leben – dem Leben vor der Pandemie – zurückzukehren.
Drei Entwicklungen könnten die Angst beseitigen:
- Wir besiegen Covid-19 durch wirksame Lockdowns sowie Test- und Rückverfolgungsmaßnahmen.
- Wir erreichen Herdenimmunität.
- Wir entwickeln einen wirksamen Impfstoff oder eine Behandlung in ausreichenden Mengen.
Mit den ersten beiden Szenarien ist in nächster Zeit kaum zu rechnen, an der dritten Front gibt es dagegen gute Nachrichten: Das sogenannte Good Judgement Project in den USA hat Beobachter identifiziert, die durch die Genauigkeit ihrer Prognosen auffallen (auch Super-Forecasters genannt), und sie nach ihrer Einschätzung gefragt. Ihr Optimismus, dass wir schon bald einen Impfstoff haben könnten, ist in den letzten drei Monaten deutlich gestiegen.
Die Hoffnung auf einen Impfstoff wächst
Wann steht in den USA ein von der FDA zugelassener Impfstoff für 25 Millionen Menschen zur Verfügung?
Quelle: Vanguard, Good Judgement Project, 15. Juli 2020.
Der Covid-19-Angstfaktor wird uns wahrscheinlich noch einige Zeit begleiten und sowohl das Wachstum der Wirtschaft als auch die Gewinne von Unternehmen belasten. Der Weg zurück zur Normalität wird schwierig, auch wenn die Aussichten auf einen Impfstoff besser werden.
Anleger sollten mit anhaltend volatilen Märkten, Risiken und Unsicherheit rechnen. Daher empfehlen wir einen langfristigen Anlagehorizont, Diversifikation und Disziplin.
Wichtige Hinweise zu Anlagerisiken:
Der Wert der Investitionen und die daraus resultierenden Erträge können steigen oder fallen, und Investoren können Verluste auf ihrer Investitionen erleiden.
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