Meinung weekly: Chaostage in Großbritannien
Die spinnen, die Briten. Falls es noch einer Bestätigung dieses Obelix-Ausspruchs bedurfte, ist spätestens seit der Verschiebung des Brexit-Votums im Unterhaus der Beweis für diese These erbracht. Nach einem unnötigen Referendum im Jahr 2016 über einen EU-Ausstieg, über dessen Details sich niemand die Mühe gemacht hatte nachzudenken, folgt ein monatelanges „gegen die Wand“-Laufen in Brüssel, wo die restliche EU aber eisern zusammenhält. Dann beschleicht die Regierungschefin Theresa May irgendwann die Ahnung, dass Binnenmarktzugang und gleichzeitige Souveränität bei den wirtschaftlichen Beziehungen zu Drittländern einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Es kommt tatsächlich zu einer Einigung – zwischen May und Brüssel. Die Vereinbarung ist angesichts der Umstände ein diplomatisches Meisterstück, aber daheim tobt man. Die einen wollen nicht begreifen, dass eben diese Quadratur des Kreises - man hätte es eigentlich ahnen können – nicht möglich ist. Die anderen möchten alles wieder rückgängig machen oder zumindest ein neues Referendum. Lässt sich dieser gordische Knoten irgendwie zerschlagen?
Da das Referendum nicht bindend ist, könnte das Unterhaus Großbritanniens die Aktivierung des Artikels 50 des Lissabon-Vertrags widerrufen. Der Europäische Gerichtshof hat gerade festgestellt, dass die anderen EU-Staaten sich dem nicht entgegenstellen dürften. Gibt es im Unterhaus eine Mehrheit für ein derartiges Vorhaben? Zum jetzigen Zeitpunkt lautet die Antwort nein. Das muss aber nicht unbedingt so bleiben.
May könnte nämlich zurücktreten oder durch ein Misstrauensvotum zu Fall gebracht werden, so dass es zu Neuwahlen käme. Auch nachdem sie gerade ein parteiinternes Misstrauensvotum überstanden hat, könnte sie immer noch vom Unterhaus aus dem Amt gedrängt werden. Neuwahlen würden zu einer Art Referendum über den Brexit werden. Jeder Abgeordnete müsste sich positionieren, zugunsten oder gegen den Widerruf des Brexit. Ggf. könnte ein entsprechend gewähltes Parlament den Brexit wieder aufheben, ohne dass den Abgeordneten vorgeworfen würde, Volkes Wille zu missachten.
Alternativ könnte May auch ein tatsächliches neues Referendum ausrufen. Dies hat sie bislang zwar kategorisch abgelehnt. Aber hey: Hatte May nicht zu Beginn der Verhandlungen einen komplett anders aussehenden Brexit-Vertrag in Aussicht gestellt?
Derzeit verfolgt die Ministerpräsidentin eine andere Strategie. Vordergründig möchte sie Nachverhandlungen mit der EU und beißt damit bei den Kollegen der Union auf Granit. In Wirklichkeit dürfte es ihr darum gehen, schlicht durch das Verstreichen von Zeit den Druck auf die Abgeordneten zu erhöhen. Denn je näher der Austrittstermin 29. März rückt, desto größer wird die Gefahr eines ungeordneten Ausstiegs aus der EU, der für Großbritanniens Wirtschaft katastrophal wäre. Welcher Abgeordnete möchte die Existenz hunderter Unternehmen auf‘s Spiel setzten, so lautet am Ende die implizite Frage, mit denen May den Abgeordneten die Pistole auf die Brust setzen würde. Dabei wurde der 21. Januar als spätester Abstimmungstermin über den Brexit-Vertrag genannt, ein Datum, das im britischen EU-Austrittsgesetz festgehalten ist. Ob diese riskante Strategie aufgehen kann, steht vollkommen in den Sternen.
Es gibt mehr oder weniger gefährliche Wege aus dem Chaos. Das größte Hindernis bei der Suche nach einer Lösung sind offensichtlich die Abgeordneten des Unterhauses, die sich selbst und gegenseitig im Weg stehen. Auch May oder der/die Nachfolger/in wird in sich gehen müssen. Möglicherweise bedarf es eine Miraculix-ähnlichen Zaubertranks, damit hier Vernunft und Koordinationswillen zurückkehrt. Der muss jedoch auf der Insel gebraut werden, nicht in Brüssel.
Hier können Sie das "Wochenbarometer" mit aktuellen News zu den Kapitalmärkten und weitere Research-Publikationen herunterladen.